Der erste Mai aus historischer Perspektive

Rudoph Rocker zum 1. Mai:
„Ein Symbol ist uns der erste Mai, ein Symbol der sozialen Befreiung im Zeichen der direkten Aktion, die im Generalstreik ihren vollendetsten Ausdruck findet. Alle, die im Frone schmachten und denen die tägliche Sorge um die Existenz ihren Stempel aufdrückt, die ganze ungeheure Armee derer, welche die Schätze der Unterwelt zu Tage fördern, am Hochofen stehen oder den Pflug durch die Felder führen, alle die Millionen, die in ungezählten Fabriken und Werkstätten dem Kapital seinen menschenfressenden Tribut entrichten müssen, die Hand- und Kopfarbeiter aller Kontinente, sie alle sind Teile jenes großen und unbesiegbaren Bundes, aus dessen Tiefen uns eine neue Zukunft kommen wird, sobald die Erkenntnis ihres trostlosen Daseins den einzelnen Gliedern machtvoll zum Bewußtsein kommen wird. Auf ihren Schultern ruht eine ganze Welt; sie tragen das Schicksal jeder Gesellschaft in ihren Händen, und ohne ihre schöpferische Tätigkeit ist jedes menschliche Leben zum Tode verdammt. “Der Syndikalist“ 4. Jg. (1922), Nr. 16

Der Startschuss – Haymarket- Vorgeschichte
Die zentrale Idee der Arbeiter*innen-Bewegung des 19.Jahrhunderts war vor allem die einer kollektiven Arbeitsniederlegung, dem sozialen Generalstreik. Die englischen Gewerkschaften beschlossen für ihr Ziel des Achtstundentags einen landesweiten Streik am 1. Mai 1833 abzuhalten, der jedoch nicht umfassend realisiert werden konnte. Der entstehende Industriekapitalismus war schon für die Anfänge der Arbeiterbewegung ein starker Gegner, der Nationalismus verhinderte andererseits oft die grenzüberschreitende Solidarität
Die Gewaltfrage
Seit dem Eisenbahnerstreik in den USA von 1877 erhielten die Gewerkschaften großen Zulauf, aber sie wurden von den bezahlten Schlägern und bewaffneten Streikbrechern hart bekämpft. Die Polizei und die Presse spielten ihre entsprechende Rolle, so forderte die „New York Tribune“ zum Beispiel, dass man die Demonstrationen der streikenden Arbeiter/innen mit Handgranaten zerschlagen solle. Als bewaffnete Verteidigungsorganisationen wurden in einigen amerikanischen Städten die gewerkschaftlichen „Lehr- und Wehrvereine“ gegründet. Sie machten Schießübungen und Aufmärsche zu Gedenken der Pariser Kommune von 1871.

Der 8-Stunden-Tag
1884 wurde in den USA eine landesweite Kampagne beschlossen. So forderten die „Föderierten Gewerkschaften und Arbeitervereine der USA und Kanadas“, dass ab dem 1.Mai 1886 der legale Arbeitstag nicht mehr als 8 Stunden zu betragen hätte. Die Verringerung des (meist 10-stündigen) Arbeitstages um zwei Stunden erschien den anarchistischen Syndikalisten als reformistisch, aber trotzdem unterstützen sie die Kampagne. Die seit 1860 bestehende Forderung sollte am 1. Mai 1886 mit landesweiten Streiks endlich durchgesetzt werden. In Chicago organisierte die „Central Labor Union“ am Sonntag vor dem 1. Mai eine Großdemonstration mit rund 25.000 Teilnehmer/innen.

Haymarket
Am 1. Mai 1886 wurde der Generalstreikaufruf in den USA von 340.000 bis 350.000 Arbeiter*innen befolgt, davon von 40.000 aus Chicago. Die Unternehmer setzten Streikbrecher, Polizei und privat angeheuerte Söldnertruppen gegen die Streikenden ein.

Am 3. Mai fand in der Nähe der Landmaschinenfabrik McCormick eine Massenveranstaltung der Holzarbeitergewerkschaft statt. Dabei kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Streikenden und Streikbrechenden. Bei dem anschließenden Einsatz der Polizei wurden 4 Arbeiter*innen erschossen, zahlreiche wurden verletzt. Einen Tag später versammelten sich aus Protest darüber über 2.000 Menschen  auf dem Chicagoer Haymarket. Als die friedliche Versammlung sich aufzulösen begann, wurden die verbliebenen 300 Demonstrierenden ohne erkennbaren Grund von 200 Polizisten angegriffen . Augenblicke später detonierte eine Bombe in den Reihen der Polizeikräfte, die von einem Unbekannten geworfen wurde. Bis heute ist nicht geklärt, ob es sich um einen Provokateur handelte. Die Polizei eröffnete sofort das Feuer auf die fliehenden Männer, Frauen und Kinder. In der Folge kam ein Polizist ums Leben  und in einer folgenden Schießerei 6 Polizisten und 7 oder 8 Arbeiter*innen wurden getötet, hinzu kamen 30 – 40 Verletzte.

Diese Ereignisse lieferten Staatsmacht und Unternehmertum nun einen Vorwand um gegen die Arbeiter*innenbewegung vorzugehen. Bereits in den frühen Morgenstunden des folgenden Tages begann die Polizei eine großangelegte Repressionswelle : es gab unzählige Hausdurchsuchungen, hunderte von Verhaftungen und Verhöre. Von Seiten der Staatsanwaltschaft gab es grünes Licht für Rechtsbrüche aller Art : „Machen sie erst die Razzien und schauen danach im Gesetz nach.“. Die Polizei zögerte nicht, selbst angelegte Waffenlager aufzudecken und diese als Beweise für eine anarchistische Verschwörung zu benutzen. Begleitet und gerechtfertigt wurden diese Machenschaften von hetzerischen Zeitungsberichten, die große Teile der Chicagoer Presse verbreiteten. Von den unzähligen Verhafteten und auch Angeklagten wurden letztendlich acht bekannte und aktive Anarchisten des Mordes angeklagt. Obwohl bewiesen war, dass keiner der Angeklagten die Tat hätte begehen können, wurde gegen sie ein Schauprozess eröffnet. Da es keine Beweise für die Mordanklage gab, hieß es danach, sie seien an einer Verschwörung beteiligt gewesen und hätten Artikel verfasst, in denen zum Umsturz der bestehenden Verhältnisse aufgerufen worden sei. Damit seien sie verantwortlich für die Tat, da sie die Täter inspiriert hätten. Am 20. August 1886 wurden die Todesurteile gegen die Angeklagten verkündet. Die Schlussreden der zu Unrecht Verurteilten wurden als „Anklagen der Angeklagten“ weltberühmt. Sie waren ein Manifest gegen die Ausbeutung und für eine freie,
menschliche Gesellschaft ohne soziale Ungerechtigkeit.

Der Prozess
Durch voreingenommene Geschworene, eingeschüchterte und bestochene Zeugen, fehlende Beweise und die begleitende Hetze der Presse, sollte der Prozess zum Schauprozess werden, woraus die Staatsanwaltschaft keinen Hehl machte: „Das Gesetz klagt die Anarchie an! Diese Männer wurden anstelle von Tausenden vor Gericht gestellt, nicht etwa, weil sie schuldiger sind, sondern weil sie deren Anführer waren. Gentlemen! Statuiert ein Exempel an ihnen, hängt sie! Nur so retten wir unsere Institutionen, unsere Gesellschaftsordnung!“ Das Urteil stand schnell fest: Sieben Angeklagte wurden zum Tode, weitere zu langer Haftstrafe verurteilt. Später wurden sie für unschuldig und zu Opfern eines Justizmordes erklärt.

Streiken heute
Seit Beginn der Arbeiter*innenbewegung hat es immer von Seiten der herrschenden Klasse Bemühungen unterschiedlichster Art gegeben diese zu zerschlagen Rechte nicht zu gewähren oder zurückzunehmen. Streikbewegungen wurden dabei moralisch diskreditiert oder mit staatlicher Repression und Gewalt überzogen. Auch wenn die Anwendung staatlicher Gewalt und Repression heute hierzulande sicherlich geringer ausfällt als noch im 19. Jahrhundert, so müssen wir uns doch immer wieder daran erinnern, dass die herrschende Klasse des Kapitalismus auch weiter nicht gewillt ist Arbeiter*innen Wohltaten zukommen zu lassen, sofern dies nicht in ihren eigenen Interessen liegt. So kommt es, dass zu einem Zeitpunkt, da die Streiks sich in jüngster Zeit wieder vermehrt haben Unternehmertum, bürgerliche Presse und Medien und auch Vertreter*innen der Parteipolitik sich zu Wort melden um Streiks und ihre Forderungen zu diskreditieren und in ein schlechtes Licht zu setzen. Beschworen wird dabei wieder einmal ein klassenübergreifendes, nationalistisches „Wir“ Gefühl, wenn es dem Wirtschaftsminister darum geht Forderungen klein zu reden und im Sinne der Profitsicherung und Gewinnmaximierung eher davon zu sprechen mehr statt weniger zu arbeiten. Streikende mit berechtigten Forderungen sind hier die Störenfriede, wenn es um die Sicherung der Profite der Volkswirtschaft im Sinne nationalistischer Standortlogik geht. In Betracht gezogen werden nun Eingriffe in ein ohnehin schon repressives Streikrecht. Ob und in welcher Form die Maßnahmen eines Streikes als angemessen und legitim aufgefasst werden unterliegt immer wieder Richtersprüchen, welche formal auf einen Ausgleich der Interessen hinarbeiten, letztlich jedoch Teil eines kapitalistischen Staates sind. So kommt es auch jetzt schon immer wieder zu Eingriffen gegenüber dem Grundrecht auf Streiks und dem Schutz der Arbeitskampffreiheit nach Art.9 III GG. Dies geschieht auf Grundlage der sogenannten Verhältnismäßigkeit. Das diese Abwägung nicht selten zu Gunsten der Arbeitgebenden ausfällt, dürfte in diesem Zusammenhang kaum überraschen. So ist der Bereich der Daseinsvorsorge schon jetzt besonders eingeschränkt und begrenzt. Hierbei wird besonders auf die Betroffenheit Dritter hingewiesen, in diesem Falle abhängige Patient*innen und Klient*innen in Krankenhäusern, Bildungseinrichtungen wie Kindergärten, Altenheimen, Sozialeinrichtungen oder eben auch eine Vielzahl von Bahnreisenden und Güterverkehr. Die Grenzen des Streikrechtes werden also nicht nur einzelfallbezogen und in einigen Bereichen sowieso schon enger ausgelegt. Das sind konkret Bereiche, die tendenziell nicht zu den bestbezahlten Berufszweigen zählen. Arbeitnehmende sind hier häufig durch Schichtdienst und Personalengpässe stark belastet. Da mag man zu Corona-Zeiten noch sehr als systemrelevant beklatscht worden sein, verbessert jedoch keine Arbeitsbedingungen. Eine mögliche weitere Einschränkung des Streikrechts in diesen Bereichen ist ein Angriff auf uns alle.

Wie uns die Geschichte des 01. Mai lehrt, ist Arbeitskampf eben genau das: Ein Kampf um die Verbesserung unserer Lebensumstände. Wie schon so oft stehen und Staat und Kapital feindlich gegenüber. Wo man uns Rechte nicht zugesteht, da werden wir sie uns selbst organisiert, solidarisch, bunt und kreativ nehmen!

[ssba]