Wohnen ist in deutschen Städten mittlerweile zum Luxus geworden, die arbeitende Bevölkerung kann es sich in Hamburg nicht mehr leisten, in der Innenstadt zu leben und wird immer weiter aus den zentralen Stadtteilen verdrängt. Statt bundesweit Mietendeckel einzuführen oder in Zeiten sehr hoher Preise, den Wohnungsbau massiv zu unterstützen, bricht der Ex-Hamburger Olaf Scholz sein Wahlkampf-Versprechen, jährlich 400,000 neue Wohnungen zu bauen. Um der schleichenden Verdrängung zu begegnen, ist der Bau neuer Gebäude, die Sanierung und teilweise die Verdichtung bestehender Strukturen von großer Bedeutung. Insbesondere das Bauhauptgewerbe spielt hierfür eine zentrale Rolle. Gleichzeitig sind die Arbeitsbedingungen in der Baubranche schlecht und die Bezahlung mies, was den Personalmangel verfestigt. Hier beleuchten wir einige spezifische Probleme der Baubranche, die so wichtig für einen bezahlbaren Wohnraum für alle ist.
1. Reallöhne der Tarifbeschäftigten
Laut einer Studie von Prof. Dr. Thorsten Schulten, dem Leiter des WSI-Tarifarchivs (1) befanden sich die Reallöhne der Tarifbeschäftigten Anfang 2024 in Deutschland insgesamt auf dem Stand von 2016 (2).
Diagramm der Nominal- u. Reallohnentwicklung in Deutschland 2000-2023 (3: S.12, mit Genehmigung des Autors)
Die sehr hohen Preissteigerungen von 2021 und 2022 sind durch die Tarifabschlüsse keineswegs ausgeglichen worden. Betroffen ist hiervon insbesondere auch das Baugewerbe: Während die tariflichen Monatsgehälter dort von 2016 bis 2023 um insgesamt 21,3 % stiegen, stiegen gleichzeitig die Verbraucherpreise im gleichen Zeitraum um 22,8 %. Dies verdeutlicht den Reallohnverlust, dem Lohnabhängige im Baugewerbe unterworfen waren. (2)Während die IG BAU den Tarifabschluss 2024 in einer Broschüre für die Lohngruppe 4 in Westdeutschland bspw. mit +631€ angibt (4), entspricht dies einem Reallohngewinn von 4% in den Jahren 2023-2026 und einem Reallohnverlust von knapp -2% in 2026 gegenüber 2021 (5).Die langen Laufzeiten der Tarifeinigungen verhindern in Zukunft rasche Reaktionen auf starke Preisbewegungen. Für den Zeitraum eines geschlossenen Tarifvertrages – also für die nächsten 3 Jahre – gilt wegen der sog. „relativen Friedenspflicht“ Streikverbot.
2. Zu geringe Tarifbindung
Für die Gesamtheit der Arbeitskräfte in Deutschland sieht die Entwicklung noch einmal schlechter aus. Denn die Tarifbindung in Deutschland ist seit 1996 stark gesunken. Arbeiteten damals 21% der Arbeitskräfte in Betrieben ohne Tarifbindung, so waren es 2022 schon 49% (10). Der Anteil ist von gut einem Fünftel auf fast die Hälfte gestiegen. Im Baugewerbe sieht die Entwicklung ganz ähnlich aus. Hier arbeiteten 2022 immerhin 42% aller Beschäftigten in Betrieben ohne Tarifbindung und 40% in Betrieben, die weder Tarifbindung noch einen Betriebsrat haben (11). Diese Tarifflucht der Kapitalseite hat sowohl längere Arbeitszeiten als auch niedrigere Löhne im Vergleich zu den geltenden Tarifbedingungen zur Folge (12). Im Allgemeinen ist ein allgemeiner Trend der Auflösung und Aufweichung von Regeln zwischen Lohnabhängigen und Unternehmen zu beobachten. Dabei gibt es sehr gute Gründe für Lohnabhängige, sich gewerkschaftlich zu organisieren: Unorganisierte Arbeiter*innen bekamen 2023 statistisch 11% weniger Lohn und mussten 54 Minuten länger arbeiten (13).
3. Beschäftigungsformen
Dieser Trend wird auf dem Bau durch eine Vielzahl von Beschäftigungsformen verstärkt: Zeitarbeit, Leiharbeit, Werkverträge, Scheinselbständigkeit, illegale Arbeit. Verschiedene Beschäftigungsformen sind unterschiedlich stark vertreten und Arbeitskräfte leiden unterschiedlich stark darunter. Prof. Friedrich Schneider schätzte den Anteil des Bauvolumens das durch illegale Beschäftigung 2018 erbracht wurde auf bis zu 40% (14). Das berücksichtigt unversteuerte Arbeit und Arbeit, bei der keine Sozialleistungen gezahlt werden. Ältere Schätzungen vom Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung schätzten den Anteil 2011 auf 30-40%. (15)Insbesondere das zunehmende Gewirr an Subunternehmerketten führt zu einer noch größeren Uneinheitlichkeit. Dieses komplizierte System soll verhindern, dass sich Bauleute zusammenschließen, um gemeinsam ihre Situation zu verbessern und zwar insbesondere im Großbetrieb auf dem Bau – den Großbaustellen. Denn große Schlagkraft für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen besteht da, wo gemeinsam gekämpft wird. Gemeinsame Kämpfe entstehen durch gemeinsame Ziele. Ein gemeinsamer Kampf wird aber umso schwieriger, je unterschiedlicher die Arbeits- und Lebensumstände und damit auch die konkreten Forderungen sind.
4. Zuschläge und Bau-Mindestlohn
Als eine Folge dieser Entwicklung sind nicht nur die Überstundenzuschläge faktisch weggefallen (stattdessen Arbeitszeitkonten im Rahmen der Flexibilisierung), sondern auch die Schmutzzuschläge, die bezahlte halbstündige Frühstückspause und ähnliches mehr. Weiterhin ist der Bau-Mindestlohn für Ungelernte wie für Fachkräfte Ende 2021 wegen der Weigerung der Unternehmensseite Ende 2021 ausgelaufen (15, S. 7), der einen Anspruch auf ein Mindesteinkommen festlegte und weit oberhalb des allgemeinen Mindestlohns lag. Im Falle der Fachkräfte war er im Streik von 2002 durchgesetzt worden (2021 bei 15,70€). Dies bedeutet nichts anderes, als dass derzeit alle Arbeitskräfte legal für den allgemeinen Mindestlohn von 12,41€/h ausgebeutet werden können. Allerdings müssen insbesondere ausländische Arbeitskräfte teilweise zu deutlich geringeren Stundenlöhnen arbeiten. Dies wird häufig über undokumentierte Lohnauszahlungen oder über formelle Teilzeitbeschäftigung bei Subunternehmen umgesetzt: Ein Arbeiter, der teilweise 55h/Woche arbeitet wird nur für 120h/Monat eingestellt (15).
5. Internationales Lohngefälle und Arbeitsmigration
In einigen Ländern in Nordwesteuropa und Nordamerika, in denen die kapitalistische Entwicklung zuerst einsetzte und die dadurch in der Lage waren, den Rest der Welt unter sich aufzuteilen (durch Kolonien und Einflusszonen), konnten in einem bestimmten Ausmaß Zugeständnisse an eine kämpfende Arbeiter*innenbewegung gemacht werden (in Form von höheren Löhnen, kürzeren Arbeitszeiten etc.). Dadurch ist die Welt heute von extremen Unterschieden an Ausbeutungsbedingungen gekennzeichnet. Der Großteil migrantisch Beschäftigter versucht, in Gebiete mit einem höheren Lohnniveau zu gelangen, um den schlechten Arbeitsbedingungen oder hoher Arbeitslosigkeit der Herkunftsländer zu entkommen. In Rumänien liegt beispielsweise der Lohn bei 400-600€ im Monat bei ständiger Beschäftigung. In den reicheren Ländern der Welt gibt es dagegen innerhalb der Lohnabhängigen einen weit vebreiteten Nationalismus, um die Konkurrenz möglichst klein zu halten und die privilegierte Lage im Weltvergleich abzusichern. Das Eigeninteresse wird hierbei über das Interesse aller Arbeiter*innen gestellt.
Für mehr Arbeitskämpfe auf dem Bau
Um all diesen Misständen zu begegnen gibt es nur einen Ausweg: Die Arbeitenden im Baugewerbe organisieren sich über Staats-, Berufs- und Sprachgrenzen hinweg und kämpfen gemeinsam für bessere Arbeitsbedingungen ohne faule Kompromisse. Wenn du dich daran beteiligen willst dann komm zur Arbeitsgruppe Bau der Freien Arbeiter*innen Union Hamburg. Kontaktiere uns unter fauhh-bau@fau.org oder komm einfach unangemeldet am Bau-Freitag (immer am 3. Freitag im Monat ab 19:30 Uhr) bei uns in der Schwarzen Katze (Fettstrasse 23) vorbei.
Quellen
(1) WSI: Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut der Hans-Böckler-Stiftung. Online: https://www.wsi.de/de/index.htm
(2) Hans Böckler Stiftung (2024). Reale Tariflöhne aktuell nur noch auf dem Niveau von 2016, trotz Kaufkraftsicherung 2023 – Experte erwartet „offensive Tarifrunde“. 13.02.24 Online: https://www.boeckler.de/de/pressemitteilungen-2675-reale-tarifloehne-auf-dem-niveau-von-2016-trotz-kaufkraftsicherung-2023-57220.htm
(3) Thorsten Schulten und das WSI-Tarifarchiv: Tarifpolitischer Jahresbericht 2023: Offensive Tarifpolitik angesichts anhaltend hoher Inflationsraten, WSI Tarifarchiv, Februar 2024
(4) IG BAU (2024). Broschüre „Respekt für unsere Arbeit. WOW! Das hat sich gelohnt.“ zur Zusammenfassung der Lohnerhöhungen im Baugewerbe 2024. Nur für IG BAU-Mitglieder.
(5) Eigene Berechnung basierend auf (4) für Nominallöhne heute und in Zukunft, (6,7) für historische Löhne, (8) für die historische Entwicklung der Verbraucherpreise und (9) für die angenommene Entwicklung der Verbraucherpreise bis 2026. Exceltabelle wird auf Anfrage geteilt.
(6) bauprofessor.de (2024). Kalkulationshilfe für Stundensätze im Bauhauptgewerbe West. Online: https://www.bauprofessor.de/kalkulationshilfe/stundensaetze-bauhauptgewerbe-west/
(7) bauprofessor.de (2024). Kalkulationshilfe für Stundensätze im Bauhauptgewerbe Ost. Online: https://www.bauprofessor.de/kalkulationshilfe/stundensaetze-bauhauptgewerbe-ost/
(8) Statistisches Bundesamt destatis (2024). Entwicklung der Nominallöhne, Reallöhne und Verbraucherpreise 2008-2024. 03.09.2024. Online: https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Verdienste/Realloehne-Nettoverdienste/Tabellen/reallohnentwicklung-jahre.html
(9) Deutsche Bundesbank (2024). Deutschland-Prognose: Deutsche Wirtschaft fasst langsam wieder Tritt – Perspektiven bis 2026. Monatsberichtsaufsatz. Monatsbericht – Juni 2024. Online: https://publikationen.bundesbank.de/publikationen-de/berichte-studien/monatsberichte/monatsbericht-juni-2024-932980?article=deutschland-prognose-deutsche-wirtschaft-fasst-langsam-wieder-tritt-perspektiven-bis-2026-932984
(10) Hohendammer, C. & Kohaut, S. (2023): Tarifbindung und Mitbestimmung: Keine Trendumkehr in Westdeutschland, Stabilisierung in Ostdeutschland, Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung: IAB-Forum 20.07.23, Nürnberg, Tabelle 4
(11) ebenda, Tabelle 2
(12) https://www.boeckler.de/de/pressemitteilungen-2675-beschaftigte-ohne-tarifvertrag-27526.htm, (Hans Böckler Stiftung): „Beschäftigte ohne Tarifvertrag arbeiten länger und verdienen weniger – niedrigere Löhne in Ostdeutschland auch durch geringere Tarifbindung“
(13) Hans Böckler Stiftung (2023). „Ohne Tarifvertrag verdienen Beschäftigte im Schnitt 11 Prozent weniger und müssen wöchentlich fast eine Stunde mehr arbeiten“, 19.04.2023. Online: https://www.boeckler.de/de/pressemitteilungen-2675-ohne-tarifvertrag-verdienen-beschaftigte-weniger-48755.htm
(14) Handwerksblatt (2018). Bau: Jede dritte Stunde wird schwarz gearbeitet. Dezember 2018. Online: https://www.handwerksblatt.de/themen-specials/offensiver-kampf-gegen-schwarzarbeit/bau-jede-dritte-stunde-wird-schwarz-gearbeitet
(15) Möller, Joachim et al. (2011): Evaluation bestehender gesetzlicher Mindestlohnregelungen. Branche: Bauhauptgewerbe, Berlin: Bundesministerium für Arbeit und Soziales.
(16) Baumgarten, M., Beck, L. & Firus, A. (2024). Helfer oder doch Fachkräfte? Migrantische Beschäftigte im deutschen Hochbau. FES diskurs. Mai 2024. Online: https://library.fes.de/pdf-files/a-p-b/21208.pdf